Digamma BR § 17 ; Kühner-Blass I 1, 77-101
ϝ bezeichnete im ältesten Griechischen den Halbvokal „u“, dessen Aussprache dem englischen „w“ ähnelt. Es soll nicht dem deutschen „w“ gleichen, weil, wenn es so wäre, dieser konsistente Laut durchaus nicht so leicht verschwinden können hätte[1].
Dieser Laut hieß ursprünglich nach dessen Aussprache „Vau“, aber wird nachher nach seiner Gestalt „Digamma“ („Doppel-Gamma“) genannt.
Wohingegen einige Dialekte (v.a. Dorisch und Äolisch) das Digamma länger behielten, ist es im Ionischen und Attischen früh beseitigt.
Das Digamma wurde also entweder in einen anderen Laut verwandelt oder ganz verdrängt, während Latein, das auch dem Urindogermanischen entstammte, den entsprechenden Halbvokal v behielt:
ursprünglich | klassisch | Latein |
αϝ, εϝ, οϝ | αυ, ευ, ου | av, ev, ov |
βοϝες | βόες | bovēs (Nom. Sg. bōs) |
ναϝες | νῆες | nāvēs |
νεϝος | νέος | novus |
ϝοικος | οἶκος | vīcus |
ϝεσπερος | ἕσπερος | vesper |
Außerdem: ϝεργον > ἔργον (dt. Werk / engl. work)
Ein Überblick der wichtigen Fälle:
1a. Schwund im Anlaut vor Vokal
ϝιον > ἴον ϝοιδα > οἶδα
1b. Wandlung von ϝ im Anlaut vor Vokal zum Spīritus asper
ϝεστια > ἑστία
- Schwund im Anlaut vor ρ
ϝριζα > ῥίζα ϝριπτω > ῥίπτω
- Schwund im Inlaut zwischen Vokalen
Διϝος > Διός βασιληϝες > βασιλῆς (auch: βασιλεῖς)
- Schwund im Inlaut nach Liquida (λ, ρ) und Nasal (μ, ν)
ξενϝος > ξένος καλϝος > καλός κορϝα > κόρη
- Wandlung von σϝ- im Anlaut zum Spīritus asper
*σϝος > ϝος > ὅς *σϝαδυς > ἡδύς *σϝεθος > ἕθος > ἔθος
- Wandlung von τϝ- im Anlaut zum σ
τϝος > σός (lat. tuus)
Im homerischen Text ist das Digamma schriftlich nicht überliefert, aber lässt sich indirekt nachweisen[2].
[1] Kühner-Blass I 1, 59.
[2] Vgl. BR 310. 1a ; Kühner-Blass I 1, 85-101.